Wege in eine größere Wachheit

Raum, Fülle & Zuhause

Gerade habe ich kein Gefühl von Eile oder Dringlichkeit. Wohl aber nehme ich wahr, dass sich Dinge anbahnen. Bedürfnisse zum Beispiel. Meine eigenen und die anderer Menschen. Diese verändern sich im Laufe der Zeit, manche werden stärker und dringlicher, andere verschwinden, und wiederum andere verändern sich erst in ihrer Qualität, der Art wie sie erlebt werden, und werden dann erst stärker. Jedenfalls kommt nichts plötzlich oder überraschend. Nichts ist einschneidend oder abrupt. Alles ist absehbar. Absehbar zumindest für den, der absehen kann. Für den, der weitsichtig, oder besser noch, absichtig ist; Für einen, für den Bedürfnisse zugleich Absichten sind. Für einen, der die Dinge kommen und werden sieht. Einen, der von der Intensität des Lebens nicht in den Moment gezwungen wurde, sondern darüber hinausragt, darüber hinaus zu sehen und fühlen fähig ist. Für einen der Ahnungen spürt, Vorahnungen insbesondere. Für denjenigen also, bahnen sich die Dinge an. Verändern sich Stück für Stück in einem Tempo, das so geartet ist, dass keine sprunghaften Handlungen – keine Übersprungshandlungen – nötig sind. So, dass keine Notwendigkeit besteht das, den Ort, an dem er gerade ist und wirkt, in Eile zu verlassen. 

Dazu kommt nun noch eine besondere Sichtweise, eine Art hinzusehen, eine Hinsicht also: Nämlich die, dass die Umgebung, die Umwelt in erster Linie nichts mit einem selbst zu tun hat. Sie ist zunächst erstmal einfach da. Alle Dinge – Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine und der ganze Rest – sind in ihrer eigenen Welt, in ihren eigenen Traum vertieft. Auf dieser Welt, die einfach da liegt und erstmal nichts mit einem selbst zu tun hat, ist man nun drauf und kann sich darauf frei bewegen. Aus dieser Freiheit der Bewegung entsteht ein Gefühl von Wohlsein und Sinn. Einer der sich frei in der Welt bewegt, das heißt, dessen Bewegung in der Außenwelt der Bewegung seiner Innenwelt entspricht, dessen Bewegung Ausdruck seiner Ursache ist, derjenige, so sagt man, ist gut drauf – damit ist gemeint: gut auf der Welt drauf.

Moderation zwecks Überbrückung: Bevor es an dieser Stelle weitergehen kann, zunächst etwas anders.

Unterbrechungen

Eben habe ich mich selbst unterbrochen. Ich hatte eine neue Idee und dann ist mir aufgefallen, dass ich die Sache davor noch gar nicht zu Ende geführt hatte. Und den Anspruch habend, die alte Sache zu Ende geführt zu haben, habe ich die neue Idee unterbrochen, abgebrochen. Dabei ist ein Bruch passiert in meinem Gedankenstrom und in meinem Ausdruck. Der Bruch kam daher, dass ich den neuen Gedanken, die neue Idee nicht annehmen konnte. Das ich ihr keinen Raum geben wollte. Das ich urteilte, sie dürfe zu dem Zeitpunkt, als sie natürlicherweise durch mich hervorkam, nicht sein. Eine Art Zensur und Zurückweisung, eine Verurteilung und Ablehnung des Lebens, das zu diesem Zeitpunkt durch mich zur Welt gebracht werden wollte. Schlimm ist es nicht, denn das Leben an meiner Stelle ist verständnisvoll, geduldig und nicht nachtragend – danke dafür. Ein Bruch, eine kleine Verletzung ist dennoch passiert. Ein Bruch, den ich in Frage stellen kann. Ich kann beispielsweise fragen, ob sich ein anderer Weg finden lässt, ein anderer Umgang. Womöglich sei es sogar etwas, das ich gerne kultivieren will: Dinge erst zu Ende zu führen, bevor ich mit Neuem beginne. Ich kann darin wohl einen Nutzen sehen. Aber, wenn es einmal nicht funktioniert, z.B. weil ein wirklich wichtiger Gedanke dazwischenkommt – manchmal ist das so –, ist es wohl kein guter Umgang, unter allen Bedingungen – also unbedingt – den Anspruch zu stellen, immer die vorangegangene Sache erst zu Ende zu führen. Eine Unterscheidung scheint mir ein besserer Umgang: Solange kein pressender, dringender, wichtiger Gedanke dazwischenkommt, erstmal die Sache, an der ich gerade bin zu einem guten Ende bringen. Denn in einigen Fällen können Zwischengedanken  – Nebensächlicheiten sind sie, diese niedlichen kleinen Träumereien, Abschweifungen und Verschnörkelungen – durchaus warten. Aber wenn die Zwischen- oder Nebensachen in besonderem Maße wichtig und dringend ist, dann tut es wohl gut ihnen an der Stelle den Raum zu überlassen und ihnen zu erlauben zur Hauptsachen zu werden.

Denn: Ein größeres Gefühl von Raum, von Großzügigkeit, von Fülle entsteht durch das in jedem Moment immer wieder der Sache Raum geben, die gerade da ist. Anders gesagt, durch das von Moment zu Moment immer wieder dem-was-gerade-da-ist-Raum-geben, durch Hingabe also, entsteht über die Zeit hinweg ein Gefühl, eine Stimmung, ein emotionaler Hintergrund von Raum und Fülle insgesamt, aus dessen Einbettung heraus Freiheit, Wohlsein und Sinn erwachsen. Es handelt sich dabei um eine höhere Gefühls- und Stimmungsebene, eine allumfassende, scheinbar unbedingte Ahnung, die durch Entscheidungen und Aktionen im Moment genährt wird und, wenn sie einmal da ist, durchaus instandgehalten werden muss. Es ist nicht so, dass wenn dieses Grundgefühl von Raum einmal da ist, es dann für immer bleibt und gegen jeden Umgang robust ist, dass man sich darauf ausruhen, darauf verlassen kann. Es entsteht und wird in Stand gehalten gerade dadurch, dass man sich nicht verlässt (siehe Unterhaltung, Verlassen & Heimsuchen), also, dadurch dass man bleibt und bei voller Präsenz und Wachheit immer wieder dem was gerade da ist Raum gibt.

Moderation zwecks Überbrückung: Kommen wir an dieser Stelle wieder auf das erste Thema zurück: Der Beschreibung dessen, was es bedeutet gut drauf zu sein und welche Hinsicht auf die Welt einen dahin führen kann.

Wir sind nun also gut drauf. Wir sehen die Bedürfnisse und Absichten entspringen und sich langsam anbahnen und tun zunächst: Garnichts. Wir reagieren nicht. Aber wir wissen wohl darum und wissen auch, dass es bald einen Handlungsbedarf geben wird. Mit dem Entspringen eines Bedürfnisses entsteht auch eine abwärts tickende Uhr, ein Zeitmaß, eine Art Ablaufdatum für den bis dahin zeitlosen Raum. In diesem Wissen, können wir nun behutsam unseren Kurs abstimmen und die Sache, bei der wir gerade sind oder den Raum, den wir bewohnen und mit Leben füllen, langsam schließen. In Ruhe und ohne Eile. Den Raum wahrend und wertschätzend, ohne sich jedoch an ihn zu klammern und ebenso wenig ihn in Eile zu verlassen. Und wenn es dann so weit gekommen ist, dass eine Sache zu Ende gebracht und einen Raum geschlossen und verlassen ist, dann sind wir, nachdem wir vollständig Abschied genommen haben, offen für neue Räume, neue Erfahrungen, neues Leben. Das bedeutet auch, dass wir nicht sicher wissen – es auch gar nicht wollen und überhaupt erst garnicht können – ob wir an diesen Ort, in diesen Raum, zu dieser Sache, zurückkehren werden. Ein wenig traurig mag das sein und das darf es sein, im Moment des Abschieds. Gerade aus dieser Ungewissheit aber, dieser völligen Zukunftsoffenheit, erwächst auch die größtmögliche Wertschätzung für die Sache, bei der man gerade ist, für den Raum, den man gerade belebt. Und aus dieser Wertschätzung heraus entspringt erst die Möglichkeit und Absicht, dem was in jedem Moment da ist, den Raum zu geben, den es braucht, um ganz da zu sein. Oder anders und vielleicht sonderbarer noch ausgedrückt: 

Aus dieser Wertschätzung heraus entspringt eine größere Wachheit. Diese Wachheit ist die Haupt- und Ursache, der Kerngegenstand jener Philosophie, die ich hier und im Folgenden zur Welt bringe.

1 Kommentar zu „Wege in eine größere Wachheit“

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